Bike-Republik Deutschland

Es wird in der deutschen Gegenwart viel von Hysterie gesprochen: Themen, Fragen, Probleme und Gefahren tauchen urplötzlich auf, eskalieren in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, um alsbald wieder in Vergessenheit zu geraten. Wer den aktuellen Fahrradboom unter diesem Blickwinkel betrachtet, wird ihm kaum gerecht. So viel Lifestyle an der Oberfläche, soviel Substanz im Unterbau – da lohnt ein genauer Blick.

Wenn im nächsten Jahr das Fahrrad seinen 200. Geburtstag feiert, kann sein Erfinder Freiherr von Drais stolz zurückblicken. Das Rad hat einen beträchtlichen Anteil am Gedeihen der Moderne, es war das erste Massenindividualverkehrsmittel, bescherte dem weiblichen Teil der Menschheit bequeme Bekleidung und gilt nach wie vor als die effektivste Fortbewegungsform des Menschen. Zudem hat es auch nach 200 Jahren an Unterhaltungswert sogar eher gewonnen: Radfahren macht schlicht Spaß, ganz unabhängig davon, ob clever im Alltag, genussvoll in der Freizeit oder sportlich im Wettkampf. Dennoch ist die Karriere des Rades keine geradlinige Entwicklung.

Bergauf mit Kurven

Mit dem wachsenden Wohlstand der Nachkriegsjahre entstand eine Assoziationskette, in der das Fahrrad linear vor dem Auto stand: In der Familie wurden die Räder gegen ein erstes Auto und später gar gegen einen Zweitwagen eingetauscht, die Politik formulierte Wachstumsziele anhand von Autobesitz und richtete die Verkehrsplanung darauf ein. Schließlich entstand eine Eigendynamik dieses Gedankenganges, der schließlich als selbsterfüllende Prophezeiung wirkte. Lange Zeit funktionierte dies sehr gut: Die Wirtschaft gedieh, der Wohlstand wuchs, Gesellschaft und Bevölkerung entwickelten sich.

Die Wurzeln des gegenwärtigen Fahrradboom reichen bis in die 1970er-Jahre zurück. Es ist keinesfalls ein Zufall, dass in jener Zeit auch Erdölkrise und Beginn einer breiten Ökobewegung lagen. Neben diesem eher europäischen Blick auf den Fahrradboom darf ein Blick in die USA nicht vergessen werden. Denn in den 1970ern wurde auch das Mountainbike erfunden. Zwar stand und steht das MTB für Sport und Spaß und weniger für Alltagsmobilität, aber das Mountainbike setzt einen Innovationswelle in Gang, die schnell auch das Alltagsrad erreichte und nachhaltig verbessert hat. Erst das MTB brachte funktionelle Schaltungen, wirkungsvolle Bremsen und leichte Bauteile bei dennoch stabiler Bauweise hervor. Erst diese technische Basis erlaubt den Bau der stabilen und guten Alltagsräder in Form von Trekkingbikes.

Dieses Update der mechanischen Bauteile des Rades war der Vorbote der elektrischen und elektronischen Entwicklung des Fahrrades. Zur Jahrtausendwende würde durch das flächendeckende Verbauen von Nabendynamos und die Einführung der LED auch das Fahrradlicht auf einen modernen Stand gebracht. Und mit der Verwendung des elektrischen Motors zur Unterstützung des Fahrers wurde der Leidenschaft Radfahren das Leiden genommen: Schwitzen und Anstrengung sind nun nicht mehr zwangsläufiger Bestandteil des Radfahrens, sondern Option: Radler können mit „Rückenwind aus der Steckdose“ auch in bergigen Regionen oder bei starkem Gegenwind ohne Überanstrengung fahren – oder sich ebenso auspowern wie ohne Motor und entsprechend schneller sein. Am Fahrrad ist der Motor ein Gewinn, der die Möglichkeiten und den Genusswert erhöht – ganz anders als beim Auto, wo zum gegenwärtigen Stand der Technik Infrastruktur und Kosten des “E” mit reichlich Kompromissen verbunden sind. Kein Wunder, dass den kaum 25.000 zugelassenen E-Autos über zwei Millionen E-Fahrräder auf den deutschen Straßen gegenüberstehen.

Schlauer durch die Stadt

Der Fahrradboom ist aber nicht alleine ein elektrischer. Er erklärt sich fast schon nüchtern aus individuellen Kosten-Nutzen-Rechnungen: Das Fahrrad ist in der Stadt einfach schneller als das Auto. Auf Radwegen rollt es zügig am Stau vorbei und die Parkplatzsuche gestaltet sich viel einfacher. Diese urbane Flexibilität wird zunehmend auch vom Einzelhandel erkannt: Radfahrer geben in der Innenstadt mehr Geld aus als Autofahrer. Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine Förderung der Bedingungen für Radfahrer nicht zu Umsatzeinbußen, sondern zu steigenden Umsätzen führt. Hier lohnt ein Blick in die Freizeitwelt: Radreisen sind ein Boomsektor im Tourismus. Studien zeigen, dass Radtouristen mehr Geld in der Region lassen als automobil Reisende. In mancher Alpenregion übersteigt der Umsatz durch das Mountainbike im Sommer mittlerweile den der Wintersportler. Im Wettbewerb der Regionen um die Gunst der Biker ist eine radfreundliche Dienstleistungsarchitektur längst Standard und Infrastruktur in Form von Bike-Parks oder Streckenbeschilderung werden zum entscheidenden Faktor. Auch dies lässt sich antizipieren: Das Gedeihen des Radverkehrs hängt wesentlich von Infrastruktur ab. Das gilt für den fließenden wie für den stehenden Verkehr.

Weichen stellen Richtung Zukunft

Dass die Menschen dies wünschen, kann an der Bevölkerungsentwicklung ausgewiesen fahrradfreundlicher Städte abgelesen werden. Sie finden sich in Sachen Bevölkerungswachstum niemals in den unteren Tabellenrängen. Mehr noch: Wenn Politik und Verwaltung zu weit hinter der Nutzungsrealität ihrer Bürger hinterherhinken, bricht sich der Pedalprotest auch schon einmal laut Bahn: Sogenannte Critical-Mass-Rides und der Berliner Volksentscheid Fahrrad sind gute Beispiele dafür. Es lässt sich festhalten, dass mit dem Fahrrad “Wählerstimmen maximiert” werden können. Und zwar unter positiven Vorzeichen. Anders lässt sich der Wahlkampfauftritt von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Fahrradmesse Eurobike kurz vor den letzten Bundestagswahlen kaum erklären.

Logisch, es dürfte Radfahrer freuen, wenn sich ihre Bedingungen in der Stadt verbessern. Oft verkannt wird bei der individuellen Betrachtung aber die gesamtgesellschaftliche Komponente. Radfahren produziert kaum Lärm, faktisch keinen Feinstaub und hat einen geringen Flächenbedarf, sowohl fließend, als auch stehend. Damit leistet das Radfahren des Einzelnen einen bedeutenden Beitrag zur urbanen Lebensqualität aller. Auch ist die Radverkehrsförderung vergleichsweise günstig, was in der angespannten Finanzsituation vieler Kommunen dem Fahrrad Impulse gibt. Das Fahrrad ist viel leichter und es weist gegenüber dem Fußverkehr eine geringere Differenzgeschwindigkeit auf, daraus leitet sich ein geringeres Gefahrenpotenzial für die anderen Verkehrsteilnehmer ab. Zu diesen lokalen Nutzeneffekten kommen auch noch globale: Das Fahrrad ist ressourcenschonend in der Produktion und kommt als Treibstoff mit einem zünftigen Frühstück des Fahrers oder im Falle eines E-Bikes mit ein wenig grünem Strom aus.

Zu guter Letzt noch der Verweis auf die Volkswirtschaft: Radfahrer sind seltener krank, glücklicher und sind nach der Radfahrt ins Büro geistig wacher. Drastisch sinkende gesundheitliche Folgekosten machen sie aus Sicht vieler Betriebsärzte zu idealen Arbeitnehmern. Da verwundert es nicht, dass immer mehr Arbeitgeber ihnen möglichst ideale Bedingungen (Duschen, Radparken, Diensträder usw.) schaffen wollen.