Barrierefrei unterwegs
Tag für Tag nutzen Millionen von Menschen den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Auf Busse und Bahnen angewiesen sind auch Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Sie dürfen nicht benachteiligt werden und sollten öffentliche Verkehrsmittel deshalb möglichst barrierefrei nutzen können. Ein grundsätzlicher Anspruch auf Gleichbehandlung oder ein Verbot jeglicher Diskriminierung ergibt sich bereits aus dem Grundgesetz. Im Dezember 2012, drei Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, hat der Bundestag dem mit einer Neufassung des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) Rechnung getragen und damit einen ersten Schritt zur behindertengerechten Ausgestaltung der kommunalen Nahverkehrspläne getan. Danach soll im ÖPNV bis 2022 vollständige Barrierefreiheit erreicht sein – eine Herausforderung für Aufgabenträger und Planer.
Etwa 30 Prozent betroffen
Behinderungen sind vielfältig und betreffen weite Teile der Bevölkerung. Fast jeder dritte Bürger kann laut der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) zumindest zeitweise zur Personengruppe mobilitätseingeschränkter und behinderter Menschen gezählt werden. Barrierefreiheit betrifft dabei nicht nur dauerhaft sensorisch, geistig oder motorisch eingeschränkte Personen: Auch alte Menschen, Eltern mit Kleinkindern oder Personen, die mit Gepäck, Kinderwagen oder mit einem Gipsbein aus dem Skiurlaub zurückkehren, können in ihrer Mobilität eingeschränkt sein.
Ihnen allen gesteht das PBeFG eine barrierefreie Nutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel zu und bestimmt, dass die Nahverkehrspläne entsprechend zu gestalten seien: „Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen.“ So sieht es § 8 Abs. 3 Satz 3 PBefG seit Dezember 2012 vor.
Annäherung an ein Ideal
Doch wie ist eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen? Und was bedeutet die PBeFG-Novelle für die ÖPNV-Anbieter? Die Bundesarbeitsgemeinschaft ÖPNV der kommunalen Spitzenverbände (BAG ÖPNV) teilt grundsätzlich das mit der Gesetzesnovelle verbundene Ziel, weist jedoch darauf hin, dass es sich bei der vollständigen Barrierefreiheit des ÖPNV lediglich um eine politische Zielbestimmung handele. Barrierefreiheit, so die Position der BAG bleibe auch weiter „ein Prozess der Annäherung an ein Ideal und ein Kompromiss zwischen den Bedürfnissen unterschiedlicher Gruppen von Menschen“. Ein barrierefreier ÖPNV „bietet mehr Komfort und Zugänglichkeit für alle Fahrgäste, unabhängig von besonderen Bedürfnissen, temporären oder dauerhaften Behinderungen“ findet Dirk Bräuer, Leiter einer ad-hoc-Arbeitsgruppe der Bundesarbeitsgemeinschaft ÖPNV der kommunalen Spitzenverbände und in Chemnitz verantwortlich für die Angebotsplanung und Nahverkehrspläne. Eine Freiheit von Hemmnissen für alle Formen von Behinderungen sei jedoch „realistischerweise nicht zu erreichen“. Da das PBeFG keine technischen oder inhaltlichen Anforderungen formuliert habe, obliege die Definition örtlicher Standards zur Barrierefreiheit „den Aufgabenträgern in Abstimmung mit Verkehrsunternehmen, Baulastträgern und Verbänden, Beauftragten und Beiräten der Betroffenen auf Basis der allgemein anerkannten Regeln der Technik“.
Laut § 4 PBeFG „sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel (…)“ barrierefrei, „wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind“. Um Barrierefreiheit zu erzielen, müssen zunächst ausreichend nutzbare Verkehrsverbindungen zur Verfügung stehen, die von den Betroffenen auch erreicht werden können. An den Verkehrswegen selbst, also auf Wegen und an Straßenüberquerungen, müssen Ebenheit und Geschlossenheit gegeben sein. Zur nötigen Orientierung dienen Kontraste und die Begreifbarkeit von Informationen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip, zum Beispiel durch Anzeigetafeln und Lautsprecheransagen.
Neuer Planungsansatz
„Barrierefreie Verkehrsanlagen sind bei Neubau und Umbau als Standard zu erklären“, meint die FGSV und weist darauf hin, dass die Genehmigung eines Verkehres laut PBeFG untersagt werden könne, „wenn er im Sinne der Barrierefreiheit nicht mit dem Nahverkehrsplan in Einklang steht“. Um Barrierefreiheit im ÖPNV zu erreichen, schlägt die Forschungsgemeinschaft eine Abkehr vom bisherigen „sektoralen Planungsansatz“ hin zu einem „ganzheitlichen, der auf einer Analyse des Bedarfs und der Wünsche aller Passagiere sowie auf einer Einbindung der Nutzer in jeder Phase des Entstehungsprozesses beruht“.
Barrierefreie Haltestellen
Auch wenn das PBeFG selbst keine Ausführungen dazu enthält, dürften sich die Planungen für barrierefreie Einrichtungen des ÖPNV an bereits vorhandenen technischen Normen orientieren. Beispielhaft hierfür ist die DIN 18040-3 für Haltestellen und Gleisanlagen des ÖPNV. Haltestellen müssen demnach barrierefrei auffindbar und zugänglich sein. Haltestellen und Verkehrsmittel müssen so aufeinander abgestimmt sein, dass eine barrierefreie Nutzung möglich ist. An Umsteigeanlagen sollen Wege ketten zwischen Verkehrsmitteln geschaffen werden, die durch Orientierungs- und Leitsysteme unterstützt werden. Weiterempfiehlt die Norm, Haltestellen mit Witterungsschutz auszustatten. Haltestellenüberdachungen, Bahnsteige und Wartehäuschen seien nur barrierefrei zu nutzen, wenn es dort Sitzgelegenheiten gibt.
Noch viel zu tun
Fünf Jahre nach Inkrafttreten des novellierten PBeFG zieht der Experte Johannes Wolf in der renommierten Fachzeitschrift Straßenverkehrstechnik (SVT 4-2016) ein differenziertes Fazit: Vor allem im Bereich der Straßenbahnen und in den Großstädten seien „beispielhafte Ergebnisse“ geschaffen worden. Die Masse der im öffentlichen Straßenland vorhandenen Omnibushaltestellen ließen jedoch einen erheblichen Nachholbedarf gegenüber dem bei Straßenbahnen Erreichten erkennen. Dies sei „nicht nur auf eine Reihe von legislativen Ungereimtheiten, falschen Entscheidungen und eine Kette von Versäumnissen zurückzuführen, sondern auch fehlender Initiative vor Ort zuzuschreiben“ und nicht zuletzt „auch einer schwierigen Finanzlage geschuldet“.
Barrierefrei gestaltete Haltestellen tragen zur Verbesserung der Mobilität aller bei, doch sie müssen auch erreicht und bedient werden. Und dazu ist ein ausreichendes Angebot an Beförderungsleistungen erforderlich. Das jedoch nimmt in vielen ländlichen Regionen aufgrund rückläufiger Schülerzahlen ab. Bürgerbusse, Anruf- und Sammeltaxen sowie „andere bedarfsorientierte oder flexible Bedienformen, die den Linienverkehr außerhalb der Hauptverkehrszeiten ergänzen oder die Distanz zwischen Haustür und Haltestelle überbrücken“, könnten nach Ansicht eines Betroffenen die Lücken schließen. Bestehende Beförderungsmodelle dürften allerdings nicht durch Entscheidungen der Verkehrsbetriebe geschwächt werden. Gemeint sind Beschlüsse, E-Scooter von der Beförderung in Nahverkehrsbussen auszuschließen (KOMMUNAL vom 19.03.2015, Artikel Unterwegs mit einem Rollstuhlfahrer).
Ein Fazit: Ob völlige Barrierefreiheit im ÖPNV bis 2022 oder jemals danach tatsächlich erreicht werden wird, erscheint angesichts der komplexen Anforderungen und der begrenzten finanziellen Möglichkeiten der Aufgabenträger eher fraglich. Realisten sprechen nicht ohne Grund von der Annäherung an ein Ideal. Dass der Wunsch des Gesetzgebers überhaupt Aussicht auf Verwirklichung in Stadt und Land bekommt, setzt neben dem Willen und dem Engagement der Beteiligten auch die nötigen finanziellen Mittel voraus. Und nicht zuletzt ein ausreichendes Beförderungsangebot.